Slider responsive

Der Sportbegriff im Wandel
IAKS Interview

Wolfgang Baumann, Portrait

Wolfgang Baumann

Generalsekretär TAFISA
Wolfgang Baumann
Generalsekretär TAFISA

Wolfgang Baumann studierte Sportwissenschaft und -ökonomie und Englisch an der Universität Bonn, Bayreuth und Stirling (Schottland). Als Generalsekretär der TAFISA (The Association for International Sport for All) arbeitet er in der TAFISA Niederlassung in Frankfurt. Als ehemaliger Funktionär beim DSB und bei der Sportmarketingagentur Deutsche Sport Partner GmbH war er an zahlreichen internationalen und nationalen Breitensportprogrammen und -kampagnen beteiligt. Baumann vertritt das Thema „Sport for all“ weltweit und zehrt nicht nur als Gastdozent an Universitäten, sondern auch als Autor für Magazine, Wissenschafsjournals und Bücher, von seinem großen Erfahrungsschatz. Er ist in der „Sport and active society commission” des IOC und Vize-Präsident des ICSSPE (International Council of Sports Sciences and Physical Education).  

Herr Baumann, inwiefern verändert sich der Sport und die Anforderungen an die Sportstätten gerade?

Gerne beantworte ich Ihre Frage, da sie in der Tat relevant ist. Es gibt aus meiner Sicht ausreichend Indizien, die für einen Wandel des Sports und der Räume, in denen dieser stattfindet, sprechen. Diese Indizien betrachte ich aus einer internationalen Perspektive auf Basis der Beobachtungen in unseren weltweiten Mitgliedsländern und weniger aus einer deutschen Perspektive.  Fakt ist aus meiner Sicht, dass die Pandemie dazu geführt hat, dass sich Menschen aufgrund der Restriktionen neu und anders orientieren. Gewohnheiten, wie Sport getrieben wird, ändern sich noch dynamischer. Wir stellen zum Beispiel fest, dass sich der Trend zu digitalen Sportangeboten, d.h. Angebote an denen man ortsungebunden zum Beispiel im Wohnzimmer teilnehmen kann, – über den Globus hinweg - verstärkt. Aktuell werden diese Angebote auch verstärkt durch Sportorganisationen zur Verfügung gestellt. Die Menschen nehmen aber das Heft auch selbst stärker in die Hand und treiben unorganisiert, auf frei zugänglichen Sportanlagen, im Park oder auf Radwegen Sport. Experten stellen fest, dass Bewegungsformen, die zuhause ausgeübt werden können oder direkt vor der Haustür umsetzbar sind, Wachstumsraten haben und auf vielen Ebenen ein Revival erleben. Dazu gehören neben Fitness auch die Klassiker Wandern, Laufen und Radfahren.  Dies fördert natürlich auch einen Trend zur individuellen sportlichen Betätigung der Menschen. Die Pandemie verstärkt diese Entwicklung - und darauf müssen Kommunen, Organisationen und – wo vorhanden - auch Vereine nun reagieren.

Sie beobachten also eine Loslösung von organisierten Sportstrukturen in Vereinen?

Nein, es geht vielmehr um eine Parallelentwicklung, welche die Vormachtstellung der Sportvereine, dort wo sie existieren, grundsätzlich nicht in Frage stellt.  Ich rede von neuen Zielgruppen, die sich nicht als typische Vereinsmitglieder verstehen. Sie bevorzugen es, eigenverantwortlich und „unorganisiert“ Sport zu treiben. Ihre Ausrichtung orientiert sich mehr am Verständnis des offenen Begriffs „Physical Activity“, der keine Top-Leistung, Mitgliedschaft, Regelkonformität, Teamsport, Übernahme von Ehrenamt, usw. impliziert - alles Eigenschaften, die oftmals mit dem Begriff „Sport“ verbunden werden. Das kann man beklagen, öffnet aber den Zugang zu neuen Zielgruppen, die vormals nicht körperlich aktiv waren oder nicht vereinsaffin sind. Viele von ihnen können den Weg in den Sportverein finden, sodass die Vormachtstellung des Sportvereins in keiner Weise in Frage gestellt ist. Dafür müssen Vereine diese Entwicklung aufgreifen und sich für diese neuen Zielgruppen bezüglich Angebot und Verortung entsprechend aufstellen.  Leider gibt es für den Begriff Physical Activity, wie er im englischen Sprachgebrauch üblich ist, und für ein eigenständiges Phänomen steht, im Deutschen keine adäquate sprachliche Entsprechung.  

Können Sie den Begriff „Physical Activity“ näher beschreiben?

Der Begriff „Physical Activity“ ist umfassender und offener als das, was wir typischerweise mit dem Begriff Sport verbinden. Er hat in sich selbst eine Qualität, die es vielen Menschen ermöglicht sich körperlich zu betätigen, ohne ein organisiertes Angebot wahrzunehmen und oft in Verbindung mit dem Gesundheits – und Fitnessmotiv steht. Die Hemmschwelle für diese Zielgruppe, aktiv zu sein, sinkt, wenn die Möglichkeit besteht, sich unabhängig von Mitgliedschaften, Leistungsdruck oder anderen Verpflichtungen bewegen zu können. Für viele Menschen kann „Physical Activity“ also ein Einstieg in den organisierten, regelgeleiteten Sport sein. Ich sehe dies positiv, weil wir somit Menschen erreichen können, die sich ggf. sonst nicht angesprochen fühlen.

Der klassische Vereinssport und die gute alte Sporthalle, in welcher jener stattfindet, sind also nicht in Gefahr…

Ganz im Gegenteil. Wie schon erwähnt, ist die Idee des Sportvereins unschlagbar und ich selbst bin Mitglied in zwei Vereinen. Aber ich glaube, dass wir uns zukünftig stärker den neuen Zielgruppen zuwenden müssen. Ich denke, dass es beides geben wird. Solche, die sich dem organisierten Sport und sportartspezifischen Sportstätten hingezogen fühlen und solche, die körperliche Bewegung außerhalb des organisierten Sports in „public und open spaces“ treiben. Ich denke hier vor allem auch an die Länder, wo es das Konzept Sportverein wie wir es kennen gar nicht gibt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: in Bogota, Kolumbien, werden jeden Sonntag unter dem Namen „Ciclovia“ zwischen 6:00 und 13:00 Uhr rund 110 km Ringroad für den Autoverkehr gesperrt und von Radfahrern, Joggern, Spaziergängern, usw. in Besitz genommen. Ein Konzept, das sich mittlerweile in ganz Südamerika verbreitet hat.  Offene, flexible Flächen im öffentlichen Raum gewinnen zunehmend an Bedeutung und werden neue Zielgruppen zur Bewegung bringen. Natürlich müssen auch Kommunen auf diesen Wandel reagieren. Und am Ende wird auch der klassische, organisierte Sport davon profitieren.

Inwiefern verstärken die Einschränkungen der Pandemie dieses neue Sportverständnis? Trägt die Pandemie womöglich sogar zu einer aktiveren Gesellschaft bei?

Ich denke, dass es Menschen gibt, die aufgrund der Einschränkungen der Pandemie auf neue Formen der Ausübung von körperlicher Aktivität aufmerksam werden. Auch die zunehmende Digitalisierung bietet neue Chancen aber auch Herausforderungen. Der Bedarf an bewegungsgerechten „Open Spaces“ wird in Zukunft steigen. Wenn die Städte sowohl den infrastrukturellen Anforderungen des organisierten Sports als auch denen der informell, individuell Sport treibenden Menschen gerecht werden, kann das zu einem Mehr an Aktiven und zu einem aktiveren Lebensstil einer Gesellschaft führen. Hier empfehle ich, in Deutschland einen Blick nach Hamburg zu werfen, das mit seinem „Active City“-Konzept aus unserer Sicht beispielgebend arbeitet. Das gleiche gilt u.a. für die Stadt Liverpool. TAFISA hat übrigens eine Vielzahl von Städten weltweit auf dem Weg zur „Active City“ beraten und begleitet u.a. Ljubljana, Buenos Aires, Richmond und weitere Städte. Vor kurzem haben wir einen eigenen Workshop für acht Städte in Irland durchgeführt.  

Ein differenziertes Verständnis von Sport führt aus Ihrer Sicht also zu einer erhöhten Nachfrage an vielseitigen und flexibel nutzbaren Sportstätten. Wie sieht aus Ihrer Sicht die Sportinfrastruktur der Zukunft aus?

In Zukunft wird es darum gehen, mehr Sporträume zu schaffen, die frei zugänglich sind, die flexibel genutzt werden können und nicht sportartspezifisch ausgelegt sind. Damit meine ich auch Fahrradwege, „Car-Free-Räume“ und Veranstaltungen, wie sie sich gerade in vielen Ländern Südamerikas und Asiens verbreiten. Die European Cyclists Federation hat zum Beispiel veröffentlicht, das während der Pandemie in Europa der Bau von über 2.300 km infrastruktureller Maßnahmen wie Fahrradwege geplant ist, von denen bereits 1.100 km realisiert wurden. Aber auch kommunale, öffentlich zugängliche Fitnessgeräte werden an Bedeutung gewinnen, die ich ursprünglich nur von meinen Reisen nach Asien kannte. Sogar der gute alte Trimmpfad aus den siebziger Jahren kommt mir hier wieder in den Sinn – das Konzept als solches ist weiterhin aktuell.

 

Interview: Arne Weise, IAKS Deutschland

hide: No